180° - Verdrehte Kurzkrimis by Rainer Innreiter

180° - Verdrehte Kurzkrimis by Rainer Innreiter

Autor:Rainer Innreiter
Die sprache: de
Format: mobi, epub
Herausgeber: Twilight-Line Verlag GbR
veröffentlicht: 2010-05-31T22:00:00+00:00


Nachtjäger

Siebtes Opfer des „Nachtjägers“! Polizei immer noch ratlos. Marsha überflog nur die Schlagzeilen des Artikels in dem Zeitungsständer an der Kasse und wandte sich demonstrativ ab. Mehr musste sie auch gar nicht lesen, denn die Medien hatten sich wie Aasgeier auf die Mordserie gestürzt und übertrumpften sich gegenseitig darin, noch scheußlichere Details als die Konkurrenz zu schildern. Es war kurz vor zwanzig Uhr und der Supermarkt, in dem sie seit einem Jahr arbeitete, würde bald schließen. Marsha hob ein paar Chipstüten auf, die vermutlich von übermütigen Kindern oder Jugendlichen zu Boden geschmissen worden waren, und packte sie ins Regal zurück. Dann fuhr sie mit dem Aufwischen fort. Ein käsegesichtiger Mann mit einer jungen Blondine im Schlepptau schob seinen Einkaufswagen an Marsha vorbei. Die Räder des Einkaufswagens waren lange nicht mehr geschmiert worden und erzeugten ein nervtötendes Geräusch, als würden Fingernägel über eine Schiefertafel kratzen. Marsha, von Natur aus schreckhaft, zuckte zusammen.

„Bin ja gespannt, ob sie den Kerl bald erwischen“, sagte der Mann an seine Begleitung gewandt.

Die Blondine schien durch Tragen eines extrem kurzen Minirocks aller Welt ihre von Cellulite zerfurchten Beine präsentieren zu wollen.

„Hat dem letzten Opfer das Gesicht zerschlagen“, meinte sie, und in ihrer Stimme schwangen sowohl Furcht, als auch makabre Faszination mit. „Aber die Polizei hat bei der Leiche ein Halstuch gefunden. Vielleicht bringt sie ja das weiter.“

Marsha hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Sie wollte das alles nicht hören! In ihrem Kopf spukten bereits seit Beginn der Mordserie die scheußlichsten Gedanken wie ruhelose Geister herum. Zum Glück verschwand das Pärchen hinter der nächsten Regalwand und geriet so außer Hörweite. Marsha atmete tief durch, stand auf und stützte sich am kalten Metall des Regals ab. Ihr war ganz schlecht vor Angst.

„Alles in Ordnung, Kleines?“, hörte sie eine Stimme von hinten besorgt fragen.

Sie schluckte hart und räusperte sich. Was für eine unglaublich dumme Frage – natürlich war nicht alles in Ordnung! Da draußen lief jemand herum und tötete Menschen. Er mordete stets in den Abendstunden, bevorzugt nach acht Uhr. Und bald müsste sie nach Hause gehen. Allein. Es sei denn …

„Sag mal, holt dich Jerry heute wieder mit dem Wagen ab?“

Marsha drehte sich um und blickte hoffnungsvoll in das Gesicht ihrer Freundin Brooke von der Obstabteilung.

Diese schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid. Er ist auf Geschäftsreise und ich muss mit dem Bus nach Hause fahren.“

Dann legte sie tröstend ihre Hand auf Marshas Schulter. „Du hast Angst wegen des Nachtjägers, richtig?“

Marsha nickte.

„Kann ich dir nicht verdenken. Sein letztes Opfer hat er nur ein paar Blocks von deiner Woh, Ktfernt –“

„He!“, unterbrach sie die unangenehm schrille Stimme der Supermarktleiterin. „Wir bezahlen Sie nicht fürs Plaudern und Herumstehen!“

Sowohl Marsha, als auch Brooke rissen erschrocken die Köpfe herum.

„Nein, Misses Sheridan“, sagte Brooke kleinlaut, warf Marsha noch einen letzten, aufmunternden Blick zu und eilte zurück in die Obstabteilung. Sheridan sah Marsha eine Weile beim Arbeiten zu, knallte ihr noch ein paar Beleidigungen an den Kopf und verschwand endlich.

„Ich wünschte, der Nachtjäger würde diese böse, alte Hexe erlegen“, dachte Marsha und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag.



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